Die Sonne ist die Dirigentin

Text und Fotos: Christian Seiffert
Foto: Ruth Zacharias mit ihrer privaten Pflanzensammlung: © Martin Traub

Mit welchen Sinnen nimmt man Gärten wahr? Vor allem mit den Augen? Wenn man Blinde fragt, so steht für sie der Geruchssinn im Vordergrund, gefolgt vom Tastsinn. Das Gehör tritt bei Sehenden wie bei Blinden zurück, Dabei wird der Garten für taube Menschen zum Stummfilm. Als Träger von Hörgeräten kann ich mir den Stummfilm probeweise anschauen, ich brauche die Dinger im Ohr nur abzuschalten: Keine Vogelstimmen, kein Wind in den Ästen, kein Plätschern des Wassers, kein Grollen und Donnern, kein Rauschen des Regens. Glücklicherweise können Menschen, denen ein oder zwei Sinne abhandengekommen sind, dennoch mit den noch vorhandenen Sinnen ein volles und reiches Gartenerlebnis haben.

 Tast- und Geruchssinn entwickeln sich bei Blinden im Laufe der Zeit viel stärker als bei Sehenden. Die blinde Pfarrerin Ruth Zacharias (*1940 – †2021), die Gründerin des Taubblindengartens in Radeberg bei Dresden sprach oft von ihren sehenden Händen. Ihr Tast- und Geruchssinn waren phänomenal. Auf Gartenschauen kann man gelegentlich »Instrumente« sehen und erleben, die von bewegter Luft »gespielt« werden. Auf einander abgestimmte Töne hängen in der Luft: ein direktes Miteinander von Garten und Musik.

Kann man Gärten wie Musik empfinden?

Es gibt Gärten, die man gar nicht oft genug besuchen kann. Jedes Mal warten sie mit Überraschungen auf. Von einer Woche zur anderen entdeckt der Besucher neue Blütenfreuden, von Monat zu Monat verändert sich die Atmosphäre. Die Schwerpunkte verschieben sich. Der Rahmen aber bleibt, durch ihn behält der Garten seinen Rhythmus.

Kann man überhaupt die Gartenkunst mit  anderen Künsten vergleichen? Naheliegend wären ja die Malerei oder die Bildhauerkunst. Zumal Gärten immer beliebte Motive der Maler waren und Skulpturen seit alters her in  größere Gärten gehören. Von Renaissance bis Rokoko waren die Schlossgärten selbst Skulpturen, schöne, aber statische Schöpfungen. Dennoch, es gibt eine Kunst, die mit dem Garten viel mehr zu tun hat, nämlich die Musik! Wie das? Gartenkunst ist doch eine Bild-Kunst, könnte man einwenden. Vordergründig ja. Aber es gibt eine wesentliche Eigenschaft von Musik und Gartenkunst: Beide vermag man nur im Ablauf von Zeit zu erfassen. Während der Maler eine Momentsituation auf die Leinwand bringt, die Skulptur unveränderlich erscheint – es sei denn, sie setzt Moos oder Grünspan an – ist ein Garten nur im Ablauf der Zeit richtig zu begreifen und zu genießen.

Und da gleicht er der Musik. Erlebt man einen ganzen Tag im Garten nicht wie ein Lied in mehreren Strophen? Wie verändert sich der Eindruck mit dem Sonnenstand, durch wandernden Schatten, Dunst oder Nebel, mit Dunkelheit oder Mondschein? Ist ein Garten im Laufe eines Jahres nicht geradezu eine Symphonie? Eine Pastorale mit lieblichen Klängen, mit spannenden Dissonanzen, aber auch Donnerschlägen? Und gleicht andererseits ein einmaliger Kurzbesuch nicht einem schönen Akkord? Aber halt, es hört ja mit dem Jahreslauf nicht auf. Jahr für Jahr greift die Natur ein. Sie lässt wachsen, sie zerstört, tötet auch, lässt Neues entstehen, dringt von außen ein und verwandelt. Und dies selbst, wenn manche Gärtner sich mächtig dagegen stemmen. Andere lassen die Natur in Grenzen gesteuert walten. Und so wird die große Symphonie Jahr für Jahr mit erlaubten Veränderungen neu aufgeführt, und Dirigentin ist die Sonne.

Christian Seiffert
aus Jamlitz und Eresing Seit 2001 experimentiert Christian Seiffert parallel in zwei geographisch weit auseinanderliegenden Gärten: in Oberbayern und in der Niederlausitz, im Land Brandenburg.
Mehr lesen

Text und Fotos: Christian Seiffert
Foto: Ruth Zacharias mit ihrer privaten Pflanzensammlung: © Martin Traub